Etwas soll sich verändern in Sachen documenta, da scheinen sich die Verantwortlichen der wohl weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst einig zu sein. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Weltausstellung kuratieren weder Kunsthistoriker*innen noch Kunstkritiker*innen die kommende »documenta fifteen«, sondern Kunstschaffende selbst. Die documenta fifteen findet vom 18. Juni bis 25. September 2022 statt.
Das aus Jakarta stammende Kollektiv ruangrupa bewarb sich um die künstlerische Leitung der für 2022 geplanten documenta fifteen – und gewann mit einem Konzept, das sich am gemeinschaftlichen Wirtschaften und Arbeiten orientiert. »lumbung« nennt sich jene Art des Arbeitens, die die Künstler*innengruppe nun zum grundlegenden Prinzip der documenta-Organisation erklärt hat. Lumbung, das ist eigentlich der indonesische Begriff für eine kollektiv genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle und Nutzen der Gemeinschaft gelagert wird. Im Rahmen der documenta-Kuration steht lumbung für eine interdisziplinäre, kollektive und die Fähigkeiten der einzelnen Beteiligten einbeziehende Art und Weise der Arbeits- und Ausstellungsorganisation. Geteiltes Wissen, geteilte Finanzen, geteilte Werte und Rituale. Legere Meetings. All das kennzeichnet lumbung – und auch die Arbeitsweise von ruangrupa selbst. »Bei ruangrupa sind wir alle sehr verschieden, zum Beispiel was den künstlerischen Hintergrund betrifft«, sagt Iswanto Hartono im Gespräch mit CONTRASTE. Er selbst ist Künstler und Architekt und seit 2008 Mitglied des Kollektivs. »Unsere Unterschiede sind das, was uns verbindet«, ergänzt Reza Afisina, Visual Artist und seit 2003 bei ruangrupa. Das Kollektiv sei für ihn eine Art Zuhause, erzählt er. Es gehe darum, Expertise und Erfahrungen miteinander zu teilen, sich gegenseitig zu bestärken, zu bewundern und zu evaluieren: »Wir fragen uns: Wie können wir besser arbeiten? Als Kollektiv und individuell.«
»Wir haben niemals formelle Meetings, um Entscheidungen zu treffen«, sagt Iswanto Hartono. »Es läuft eher so ab, dass wir uns treffen und gemeinsam abhängen, diskutieren und dann entscheiden. Unsere Arbeitsmethode orientiert sich eher an dem Konzept vom Flow.« Es soll also fließen, keine starren Konzepte und Strukturen geben.
Die documenta, die Kunst soll nun also herausgeholt werden aus ihrem angestammten Platz in den Museen von Kassel und soll in den Kontakt gehen. Mit der Gemeinschaft. Also mit den Besucher*innen. Oder mit wem? Zunächst einmal geht es um die Vernetzung verschiedener Künstler*innenkollektive. 14 sogenannte »lumbung member« hat ruangrupa ausgewählt und zu einem internationalen Netzwerk verknüpft, das auch über die documenta fifteen hinaus Bestand haben soll. Dabei sind unter anderem das »Zentrum für Kunst und Urbanistik« (ZK/U) aus Berlin und »Question of Funding« aus Jerusalem. Ziel des Netzwerkes sind Erhalt und Ausbau der einzelnen Kollektive durch gemeinsam genutzte Ressourcen und geteiltes Wissen. »Außerdem möchten wir auch mit lokalen Künstler*innen, Initiativen und Einzelpersonen aus Kassel zusammenarbeiten«, sagt Iswanto Hartono.
Bereits geöffnet sind indes die Türen des sogenannten »ruruHaus« in der Kasseler Treppenstraße, in dem zuvor ein großes Kaufhaus seine Sportartikel verkaufte. Das ruruHaus dient als physische Basis für gemeinsame Treffen und gemeinschaftliche Projekte, die ruangrupa mit anderen Kollektiven, Studierenden, Künstler*innen und Gemeinschaften bis zur documenta und währenddessen realisieren möchte. Es ist »ein selbstorganisierter Raum für die lumbung inter-lokal community«, heißt es auf der Webseite. Das ruruHaus sei dabei gewissermaßen das »gemeinsame Wohnzimmer«, in dem zusammen Ideen gesponnen oder auch Veranstaltungen und Aktionen realisiert werden.
Auf YouTube können sich Interessierte darüber hinaus über die Werte informieren, die lumbung ausmachen: Großzügigkeit, Humor, Genügsamkeit, Transparenz, lokale Verankerung, Regeneration und Unabhängigkeit. In dem Online-Gesprächsformat »lumbung calling« tauschen sich Mitglieder von ruangrupa mit internationalen Gästen jeweils über einen der Werte aus. Dabei geht es nicht nur um diesen Wert und seinen Bezug zur Kunst, sondern vor allem um die Bedeutung der Begriffe im soziokulturellen Kontext. Sich lokal und international vernetzen, gemeinsam an nachhaltigen Projekten arbeiten, sich dabei einer Arbeitsweise bedienend, die den Austausch und den Prozess (und nicht nur dessen Ergebnis) in den Vordergrund stellt, eine Kultur der Zwanglosigkeit – das sind wichtige Eckpfeiler einer modernen Gesellschaft, die die Stärken und Fähigkeiten des/der Einzelnen wertschätzt und die von der Beteiligung eines jeden Individuums profitiert. Das Intellektualisierte weicht dabei dem Praktischen. Der Kopf macht Platz für das Herz.
Marlene Seibel, in einer längeren Fassung zuerst erschienen in contraste Nr. 447
Links:
https://documenta-fifteen.de/
https://ruangrupa.id/
https://ruruhaus.de/