Ein paar Gedanken
Schon als Kind konnte ich nicht still sitzen. Meine Freizeit verbrachte ich bei Großmutter im Garten, kletterte auf Bäume, naschte von Himbeeren und ließ die Matsche aus Wasser und Erde zwischen meinen kleinen Zehen hindurchquatschen.
Der Fernseher zog erst bei uns ein, als ich bereits sieben Jahre alt war. Ich war fasziniert von der Unterwasserwelt, die Jacques Cousteau mir ins Wohnzimmer lieferte und von der Sendung „Kinder dieser Erde“, die mir unsere kulturelle Buntheit deutlich vor Augen führte. Beruhigend war, dass wilde Bären und giftige Schlangen hinter der Glasscheibe nicht wirklich eine Gefahr bedeuteten. Ich saß gemütlich und entspannt vor der Kiste. Bilder aus dem Krieg zeigten mir allerdings, dass das Leben in anderen Ländern nicht ganz so gemütlich war, wie es mir in meinem Alltag erschien.
Viele Jahre später begann sich das Leben mit Bildschirm auszuweiten. Computer zogen ein, dann kamen Smartphones, Tablets und schließlich Netflix. Sie alle haben es geschafft, unsere Zeiten, in denen wir die Welt hinter Glas wahrnehmen, deutlich zu erhöhen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 beschäftigen sich Erwachsen etwa 9,5 Stunden am Tag mit bildschirmbasierten Medien.
Doch 2020 hat Corona noch mehr verändert. Nun sitzen nicht nur die Bankangestellten hinter Glas, sondern auch die Kassiererinnen im Supermarkt. Ja selbst der Buchhändler, mit dem ich so gerne einen Plausch über die neusten Veröffentlichungen halte, ist getrennt von mir durch eine Scheibe.
Schon lange fragen wir uns, warum wir, obwohl die Fakten eine deutliche Sprache sprechen, so wenig tun gegen Klimakrise, Umweltkrise, gegen Hunger und Krieg auf diesem Planeten. Vielleicht liegt es genau an dieser Trennung. Unsere Geschichte – zumindest seit der Antike – ist die einer einzigen Trennung. Wir trennen Körper und Geist, Männer von Frauen, Mächtige von Machtlosen, Arme von Reichen. Wir trennen uns selbst von der Natur durch Wissenschaft und Technik, durch Ökonomisierung aller Lebensbereiche und fühlen uns noch immer als die Krone der Schöpfung …
Doch die Krone der Schöpfung ist nun ein reduzierter Mensch. Die Welt hinter dem Bildschirm hat ihn reduziert auf Auge und Ohr. Und während wir über die Errungenschaften eines 3D-Druckers staunen, reduzieren wir unsere Augen auf 2D vor dem Bildschirm. Unsere Ohren, versehen mit Stöpseln, verlernen das Entfernungshören.
Und die Reduktion geht weiter. In Zeiten von Corona sitzen 300 Millionen Menschen täglich in Zoom-Konferenzen, und die Menschen stellen fest, wie ermüdend das ist. Dies liegt aber nicht nur an der Bildschirmarbeit als solche, sondern vor allem am Mangel eines für uns Menschen wesentlichen Elements. Ein kürzlich erschienener Artikel in der New York Times „Why Zoom Is Terrible“ macht das deutlich. Durch die Technik sehen wir unser Gegenüber nicht eindeutig. Das Bild ruckt und zuckt, manchmal ist es verschwommen; es gibt Verzögerungen in der Übertragung, der Ton stimmt nicht immer mit der Mimik überein, weil eins von beiden verzögert ist. All das macht es uns unmöglich, das feine Muskelspiel zu lesen, das wir sonst in der Mimik unseres Gegenübers bewusst oder unbewusst, aber dennoch sehr sensibel, wahrnehmen. Unser Hirn ist überlastet, wir fühlen uns isoliert und unverbunden mit unserem Gegenüber. Unsere Spiegelneuronen können als wesentliches Resonanzsystem unseres Gehirns nicht richtig arbeiten und Gefühle und Stimmungen unseres Gegenübers erkennen. Dieses Erkennen ist aber grundlegend für das Empfinden von Verbundenheit und Empathie. Durch den technisch nicht reibungslosen Ablauf ist dieser Prozess gestört und unser Hirn überanstrengt, so Paula Niedenthal, Professorin für Psychologie. Und Sheryl Brahnam, Professorin für Informationstechnologie, vergleicht Video-Konferenzen mit hoch verarbeiteten Lebensmitteln. Der Unterschied zwischen einem frischen Heidelbeer-Muffin und einem in Plastik verpackten liege auf der Hand. Letzterer enthalte künstliche Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe, billigen Zucker und noch billigeres Fett. Ihr Resultat: „Du isst zu viel und du fühlst dich nicht wohl.“
Was ist die Lösung?
Aufgewachsen mit einer Großmutter, die noch jeden Tag frisch kochte, mag ich auch heute noch immer kein Fast-Food. Nach endlosen Stunden vor dem Bildschirm gehe ich auf den Acker der Solidarischen Landwirtschaft. Ich atme den Duft der Zitronenmelisse ein, nasche von den ersten Johannisbeeren, pflücke mir ein Sträußchen Oregano und ziehe Schuhe und Strümpfe aus, um das Gras unter den Füßen zu spüren. Ich schaue den Störchen bei ihrem eleganten Flug zu und genieße die Weite des Himmels …
Seit Jahren hören wir in den Medien die Warnung, wir dürften den Anschluss an die Digitalisierung nicht verpassen. Vielleicht sollten wir vielmehr darauf achten, dass wir den Anschluss an unsere Lebensgrundlage nicht verpassen.