Kein Märchen – nur ein paar Gedanken
Eingekuschelt liege ich im Schlafsack und lausche: Es knackt und knistert um mich herum. Ein leiser Wind spielt in den Ästen der hundertjährigen Eiche, der Mond wirft ein sanftes Licht durch die Fenster des Baumhauses, in dem ich die Nacht in 18 Meter Höhe verbringe.
Am Nachmittag war ich mit dem Schlossherrn durch den Wald hierher gelaufen und hatte meinen Rucksack die Rundtreppe, die er um den gewaltigen Stamm hatte bauen lassen, hinaufgeschleppt. Mit Stirnlampe hatte ich dann gegen Abend noch gelesen: 500 Tierarten haben sich auf die Eiche spezialisiert, manche tragen sogar die Eiche in ihrem Namen, wie der Eichelhäher, der Eichelbock oder der Eichenspinner. Bis zu 150.000 Blätter hat so eine alte Eiche, verarbeitet 5000 kg Kohlendioxid pro Jahr und erzeugt 4500 kg Sauerstoff; das entspricht dem Jahresbedarf von 11 Menschen. Zudem filtert sie eine Tonne Staub aus der Luft und zieht bis zu 50.000 Liter Wasser aus dem Boden. Kein Wunder, dass es durch die Verdunstungskälte im Wald so herrlich kühl bleibt. Aber genug der Zahlen!
Ich fühle mich wunderbar aufgehoben zwischen diesen starken Armen, die sich gegen das Mondlicht wie ein Scherenschnitt vor meinen Augen abzeichnen. Ich genieße die Stille, die nicht wirklich still ist – vielleicht ist Ruhe das bessere Wort. Auch ich werde ruhig nach einem langen Reisetag. Mein Atem scheint sich irgendwie auf den Atem dieser Riesin einzuschwingen. Sanft wiegt er mich in den Schlaf.
Am anderen Morgen bin ich früh wach, denn das Vogelkonzert hat es in sich. Im Baumhaus gibt es eine kleine Trockentoilette und ein Waschbecken mit kleinem Kanister – völlig ausreichend für eine Katzenwäsche. Ich habe es ohnehin eilig, besser gesagt, ich bin schrecklich neugierig: Im Dach das Baumhauses gibt es eine Klappe, durch die ich auf eine Dachterrasse gelangen kann. Schnell die kleine Leiter hinauf. Ein frischer Wind pfeift mir um die Ohren. Die Bäume sind noch kahl, die Sicht ist gut – ich schaue über all die Baumwipfel hinweg bis ans Meer. Lange stehe ich da und staune.
Der Schlossherr hatte mich am Tag zuvor auf das Seil aufmerksam gemacht, mit dem ich mein Frühstück hochziehen könne. Nun gut. Ich ziehe und ziehe, recht langsam und tatsächlich – ein Korb taucht auf. Vorsichtig hole ich ihn zu mir heran: Heißer Kaffee in der Thermoskanne, frische Croissants, Butter und Heidelbeermarmelade, ein Baguette mit Camembert de Normandie und ein Stück Pont-l’Evêque. Noch nie habe ich so gut und in so luftiger Höhe gefrühstückt.
Neben mir liegt das Buch von Ulrich Grober „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs“. Mir wird klar: Mit dem Wald ist es wie mit der Gesundheit; man schätzt ihn erst, wenn er weg ist. So hat Venedig 1476 die Wälder entlang des Piave unter strengen Schutz gestellt, nachdem durch die vielen Rodungen für den Schiffsbau der venezianischen Kriegs- und Handelsflotten die gesamte Gegend in eine wenig fruchtbare Karstlandschaft verwandelt worden war. 1713 hat Carl von Carlowitz nach exzessiven Rodungen und einer überregionalen Holznot seine „Sylvicultura oeconomica oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht“ veröffentlicht, nach der man nur so viel Holz dem Wald entnehmen dürfe, wie auf natürliche Weise wieder nachwachse.
Das ging so lange gut, bis das Holz scheinbar nicht mehr wichtig war: Man hatte billiges Erdöl entdeckt, baute Schiffe schließlich aus Stahl und konnte den Raubbau der Wälder durch die Kolonialisierung ferner Länder einfach fortsetzen.
Doch bereits Humboldt kritisierte im 19. Jahrhundert das koloniale Vorgehen im Amazonasgebiet. Man dürfe nicht zu viel Wald abholzen; das habe Auswirkungen auf das Klima. Doch niemand schien zu hören. Die Enländer verweigerten ihm daraufhin sogar die Reise nach Indien; aus Angst, er könnte auch ihre Kolonialpolitik kritisieren. Während sich die einen schon früh mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit befasst haben, haben andere sich das genommen, was sie wollten – ohne Rücksicht und Gedanken an Gesundheit und zukünftige Generationen.
Aber vielleicht steckt im Thema Wald noch ein anderer Aspekt: Beim Lesen auf meinem Baumhaus und der Blick auf diesen großen Wald, kommt mir Robin Hood in den Sinn, wie er sich mit seinen Leuten im Sherwood-Forest versteckte. Ja, dicht war früher der Wald; bot den Menschen auch Schutz vor Kontrolle und Macht. Nun frage ich mich, warum zum Beispiel gerade in China den Menschen kleine, nagelneue und mit Fernsehen ausgestattete Wohnungen in der Stadt angeboten werden, gleich mit einem Arbeitsplatz nebenan, während man ihre Dörfer und kleine Hütten aus hygienischen Gründen mit dem Bulldozer plattmacht.
In dem kleinen Bändchen „Hütten. Obdach und Sehnsucht“ von Petra Ahne finde ich einen Hinweis. Menschen, die über Jahre in einer einsamen Hütte oder im Wald lebten, waren häufig Kritiker, lebten am Rande der Gesellschaft und waren von daher den Anderen oftmals auch suspekt. Doch haben die Kritiker nicht häufig auch Recht? Gerade weil sie sich aus der Gesellschaft ein Stück herausnehmen, bekommen sie Distanz und einen schärferen Blick.
Jean-Jacques Rousseau, der eine Hütte in der Nähe von Paris als Rückzugsort nutzen konnte, habe „zeitlebens die Selbstbesinnung in der Natur gefordert“. Und Henry David Thoreau, so fand ich in der Biographie über Humboldt von Andrea Wulf, lieferte durch seine exakten Tagebuchnotizen in den Wäldern Nachweise für den Klimawandel. Aufgrund seiner Aufzeichnungen lassen sich heute zum Beispiel Rückschlüsse auf den Beginn von Blütezeiten ziehen, die deutlich früher liegen als damals. Doch interessiert das wirklich? Das einflussreiche Buch von Rachel Carson „Silent Spring“ war der Beginn einer weltweiten Umweltbewegung und erschien 1962. Zehn Jahre später folgten die Veröffentlichungen des Club of Rome. Doch auch wenn wir heute viel über Recycling und Nachhaltigkeit reden, haben wir die Natur weiterhin dramatisch ruiniert. Petra Ahne schreibt: „Es gibt Vermutungen (…) dass es um die Welt besser stünde, wenn wir diese Verbindung (zur Natur) nicht so nachhaltig hätten abreißen lassen.“
Doch wie wieder anknüpfen? Eigentlich ganz einfach. Wenn ich zwei Punkte auf einem Blatt Papier miteinander verbinden will, muss ich den Bleistift von einem Punkt zum anderen bewegen. So muss auch ich mich einfach wieder hinbewegen von meinem Punkt zum anderen Punkt: hinein in die Natur gehen und Zeit zum Verweilen mitbringen; einmal unterm Sternenhimmel schlafen; staunen lernen darüber, wie aus einer kleinen Eichel ein derart riesiger Baum wachsen kann; den Duft von Waldboden einatmen – gleich nach einem frischen Regenschauer; eine Möhre aus dem Gartenboden ziehen, waschen und reibeißen.
Ich packe mein Frühstücksgeschirr in den Korb, lasse ihn am Seil hinab, packe meinen Rucksack und steige die lange gewendelte Treppe hinab. Dabei lasse ich meine Hand an der Rinde der alten Dame entlang gleiten und bedanke mich für die wunderbare Nacht in ihren Zweigen.
Zum Weiterlesen und Schmökern
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München: Penguin Verlag.
Petra Ahne: Hütten. Obdach und Sehnsucht. Naturkunden. Berlin: MSB Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft mbH
Henry David Thoreau: Walden. Leben in den Wäldern. Köln: Anaconda Verlag.
Eine geniale Seite zum Stöbern über die gigantische Arbeit Alexander von Humboldts
Humboldt Digital Library: https://edition-humboldt.de/