Wenn Farben die Seele nähren

Winter 2021. Corona-Hotspot. Bewegungsradius 15 km. Das Wohnmobil, das sonst das ganze Jahr über unterwegs ist, steht in der Scheune – Stillstand! Doch die beiden Besitzer machen sich zu Fuß auf einen Spaziergang in den nahe gelegenen Wald, setzen sich auf einen umgestürzten Baumstamm und lassen den Blick schweifen: blauer Himmel, schneeglitzernde Baumwipfel, Spuren von Reh und Hase. Sie kommen zur Ruhe und genießen die Stille. Natürlich träumen sie vom Urlaub und dem karibikblauen Wasser, in das sie vor zwei Jahren eintauchten, von den Oker-Steinbrüchen im Süden Frankreichs, der Mandelblüte auf Mallorca…

Mir fällt Leo Leonni ein, der mit seinem Frederick eine wunderbare Geschichte erzählt: Frederick, die Maus, denkt nicht daran, wie alle anderen Mäuse, Nüsse und Körner für den Winter zu sammeln; er  sammelt die Farben und Worte des Sommers. Im Winter dann, als alle Vorräte der anderen Mäuse aufgebraucht sind, ernährt er sie, indem er von den Sommerfarben erzählt.

Was nährt eigentlich unsere Seele im Corona-Winter, der sich nun auch noch im Frühling fortsetzt? Der Duft einer roten Rose, das Gelb eines Zitronenfalters, der Geschmack einer kühlen Kirsche, das tiefe Rot eines Merlot? Farben nähren uns tatsächlich! Denken wir nicht alle an sie, wenn ein grauer Regentag trüb vor dem Fenster steht?

Goethe hat meines Erachtens genau diese Dimension versucht in seiner Farbenlehre einzufangen, die seelisch-geistige Wirkung der Farben auf den Menschen; er hat versucht, ihren ästhetischen Wert zu zeigen und sie als Phänomen wahrgenommen, in einem eher ganzheitlichen Sinn. Damit liegt er bis heute im Clinch mit Newton, der die Farben rein mathematisch analysierte. Beide haben sicherlich auf ihre Weise recht. Doch in einem Schülerlexikon finde ich die Aussage, Goethes Farbenlehre sei kein brauchbares Modell, weil sie keine quantitative Vorhersage erlaube. Da stellt sich die Frage, müssen wir wirklich alles quantifizieren? Und hat es nur dann einen Wert, wenn es sich quantifizieren lässt? Oder brauchen wir neben der Information, dass wir Licht mit einer Wellenlänge  von 450-482 nm als Blau wahrnehmen nicht auch das tiefe Blau eines Enzians, des Himmels, der Meere?

Warum wohl haben so viele Farben ihre Namen aus der Natur? Liegt es nicht vielleicht daran, dass die Natur uns die Farben schenkt? Selbst Namen wie Titanweiß haben ihren Ursprung in den Pigmenten, aus denen sie hergestellt wurden. Der Maler Lucas Cranach hatte im 16. Jahrhundert eine Apotheke, denn das Herstellen von Farben zum Malen war eine Wissenschaft für sich. Die Pigmente mussten mit Leim, Öl, Blut oder anderen Trägermaterialien gemischt werden und nicht immer kam genau das heraus, was der Maler wünschte, kam es doch – wenn man keine Erfahrung hatte – zu unerwarteten chemischen Prozessen.
Mit all den Töpfen und offenen Gläsern waren die Maler mehr oder weniger gezwungen im Atelier zu malen – wollte man doch unterwegs seine Farben nicht verschütten. Erst John Goffe Rand erfand im 19. Jahrhundert – weil er sich über eingetrocknete Farben immer wieder ärgerte – die Tube. Nun konnte man die Farben mit hinausnehmen und en plein air, unter freiem Himmel, malen. 1841 meldete er darauf in den USA das Patent an. In England übernahm 1842 Windsor & Newton diese geniale Erfindung und so war sie schon bald auch in Paris zu kaufen. Im Wald von Fontainebleau stellten die Maler erstmals fest, wie viele Grüntöne er zu bieten hat. „Eben diese Tubenfarben“, schreibt Pierre-Auguste Renoir, „die man so leicht befördern kann, erlauben uns, wirklich nach der Natur zu malen“.

Da sind wir wieder: draußen im Wald auf einem Baumstamm, die Natur anschauen und in sich aufnehmen. Wie wär’s, sich nun im Frühling von der Welt der Farben anregen zu lassen?

Anregung: Wenn Farben die Seele nähren

Nick Neddo malt fast ausschließlich mit selbst hergestellten Farben und Pinseln aus der Natur
https://www.nickneddo.com/tools-materials