
Manchmal, wenn Menschen über die letzte große Schwelle gehen, wird erst im Abschied
wirklich bewusst, welche immense Rolle – auch aus der Ferne – sie für das eigene Leben
hatten.
Diese Einsicht haben in den letzten Tagen wohl viele Tausende gehabt (gestorben 19.7.2025), als sie vom
Tod der 96jährigen Joanna Macy hörten und dem Echo ihrer Weisheit in sich nachhorchten.
Denn diese große Seele hat Unzählige in allen Ländern der Welt mit ihrer Liebe zum Leben
und zum blauen Planeten berührt und sie auf den Weg in eine lebenswerte Zukunft
geschickt, die vielleicht erst Generation nach der eigenen Lebensspanne realisiert wird.
„Hoffnung“, so lehrte sie „entsteht im Handeln!“
Ökophilosophin, Religionswissenschaftlerin, Pionierin der Systemtheorie, die „große Dame
der Tiefenökologie“ hat man sie genannt. Aber sie war als lebenslang Suchende auch eine
der bedeutendsten buddhistischen Lehrerinnen, globale Therapeutin für die verwirrten
Bewohner der industriellen Wachstumsgesellschaften, heilend Mitfühlende für unzählige
Öko-Aktivisten, die ausgebrannt im Widerstand gegen die weltweite Zerstörung hoffnungslos
zu ihr kamen.
Eine, die der tiefen Verzweiflung über das, was Menschen dem Wunderwerk
Erde antun, Raum gab, Tränen und Wut begrüßte. Und die dann das transformative Wunder
vollbrachte, diese ‚Despair‘ in ‚Empowerment‘, Verzweiflung in Ermutigung zu verwandeln.
Und – ohne das von sich selbst zu behaupten – eine große spirituelle Lehrerin war, die tiefe
Dankbarkeit fühlte, in diesen verwirrenden Zeiten am Leben zu sein, in denen viel zerstört,
aber auch so viel zu gestalten ist und positive Zukunft geschaffen werden kann. Die vor
heiliger Wut kochen konnte, und im nächsten Moment vor Lebensfreude sprühte. Eine, die
forderte, „das Herz soweit aufbrechen zu lassen, dass es die ganze Welt in sich aufnehmen
kann“ – um dann diese Liebe und Verbundenheit in politische, soziale und ökologische
Aktion zu stecken.
Als ich als junger Journalist Joanna Macy vor 35 Jahren begegnete, war ich tief deprimiert
vom scheinbar folgenlosen Aufdecken ökologischer Verbrechen, und der Schläfrigkeit einer
Gesellschaft, die ich mit meinen Texten doch aufrütteln wollte. In den Gesprächen mit ihr
begriff ich, dass kaum jemand noch mehr schlechte Nachrichten ertrug und sich die
Menschheit in eine kollektive Verdrängung flüchtete – und damit dem Kollaps Raum gab,
anstatt ihn zu verhindern. In ihrer Begleitung stellte ich mich dem Schmerz über die
Zerstörung des Lebensnetzes, tobte, heulte und schrie ihn raus – bis ich jenseits der
Schattenreise die Liebe erreichte und hinter dem Nebel der Verdrängung das Mitgefühl für
alle Wesen spüren konnte. Es war damals, als würde die Erde selbst ihren Schmerz durch uns
artikulieren. Und es entstand die Vision, mit meiner Arbeit „der Erde eine Stimme zu geben“:
Den Finger auf all die offenen Wunden zu legen und zugleich von den Menschen zu erzählen,
die, verbunden mit der verwundeten Erde, sich aufmachten, um handelnd Hoffnung zu
vermitteln.
Von ihnen erzähle ich seit Jahrzehnten in jedem Artikel, jeder Radiosendung,
jedem Buch: Inseln der Zukunft in einem Meer von Chaos. Geschichten der Hoffnung zu
erzählen, die Mut machten. Narrative des Möglichen! Wir müssen, so hatte sie gesagt, jeder
“Sterbebegleiter der alten zerstörerischen Welt und Hebammen für eine lebensfördernde
Zukunft sein“. Und beides war – das begriff ich – überall zu sehen! Zeitgleich!
Joanna Macy hat in ihrem Leben AktivistInnen und LiebhaberInnen des Lebens ein
großartiges Modell an die Hand gegeben, sich heute für Menschen in Jahrhunderten
verantwortlich zu fühlen. Wenn es in im Jahr 2225 noch lebenswerte menschliche
Zivilisationen gibt, sagte sie, dann werden deren Bewohner in Dankbarkeit auf uns
Gegenwärtige zurückschauen, die in Zeiten der weltweiten Zerstörung des Lebensnetzes den
‚Großen Wandel‘ eingeleitet und umgesetzt hatten. Und sie machte überzeugend deutlich,
dass dieser ‚Große Wandel‘ längst im Gange ist und auf vielerlei Ebenen überall auf der Welt
dynamisch wächst:
Auf der ersten Ebene im Widerstand gegen Zerstörung, mit
Sitzblockaden, Petitionen, Demos, Boykotten, zivilem Ungehorsam gegenüber einer Politik,
die zum großen Aussterben, zum Treibhaus Erde und zu immer mehr Kriegen führt. Enorm
wichtiger, anstrengender Widerstand – aber nicht genug für den notwendigen Wandel!
Dazu brauche es auf der zweiten Ebene, jenes, was ebenso überall geschieht:
funktionierende Modelle einer Welt von Morgen zu bauen, die skaliert werden können,
wenn die Titanic der globalisierten Wachstumsgesellschaft sinkt. Tausende von kleinen
Rettungsbooten: funktionierende regionale Gemeinschaften, innovative Öko-Dörfer,
nachhaltige Energiequellen, sozial gerechte Unternehmen, gewaltfreie Kommunikation,
Kooperation statt Konkurrenz, Frieden durch Versöhnung, kulturelle Diversität und Vielfalt.
Aber auch ganz klein: Waldkindergärten, alternative Schulen, Bio-Läden, Öko-Projekte,
Nachbarschaftshilfen, funktionierendes Recycling, Zero Waste, alternative Währungen – und,
und, und. Immer mehr davon: Zukunft JETZT! Unverzichtbar, so Joanna Macy, aber auch noch
nicht genug.
Was es drittens bräuchte um den ‚Großen Wandel‘, The Great Turning zu schaffen, sei ein
Wandel im Wahrnehmen und Denken auf allen Ebenen. Und auch der passiere überall – in
den Millionenstädten und auf dem Land, in allen Generationen, quer durch alle Schichten in
unzähligen Köpfen und Herzen: Die Einsicht in die Verbundenheit, das Wachsen des
Mitgefühls, eine neue Ethik. Eine neue Wissenschaft der Verwobenheit alles Lebens. Eine
Wiederentdeckung indigener Weisheit. Eine individuelle therapeutische Aufarbeitung alter
Traumata. Die Entfaltung menschlicher Potentiale. Das Erdenken neuer Narrative, sinnvoller
Schöpfungsgeschichten, ökologischer Weltbilder. Erdverbundener Spiritualität. Auf dieser
dritten Ebene, so lockte Joanna Macy, wird der ‚Große Wandel‘ schließlich umsetzbar. Im
persönlichen Wandel in unzähligen Herzen!
Vielleicht erst nach globalen Phasen der Zerstörung, des Chaos und der Not. Doch sie malte,
geschult von der Erforschung der Systemtheorie, das Bild von der ‚positiven Desintegration‘,
dem ‚heiligen Zerfall‘, des ‚kreativen Ungleichgewichts‘ – wo aus jedem Chaos neue höhere
Ordnung entsteht. Der uralten Kraft des sich entfaltenden Lebens traute sie viel mehr Kraft zu
als den Trumps und Putins dieser Welt. Und sie machte Mut! Immer wieder Mut in der
Verzweiflung.
Es war ein verrücktes, volles, paradoxes und langes Leben voller Krisen und kreativen
Wendungen, eine „chaotische Patchworkdecke“, wie sie selbst sagte: 1926 geboren, zutiefst
christlich erzogen, Studium der Theologie – dann tiefe Zweifel.
Ein Studium der politischen Wissenschaften in Paris und Arbeit für US-Außenministerium mit den Diplomaten junger
afrikanischer Nationen – Zweifel auch an diesem Weg. Sie begegnet und begleitet den alten
Albert Schweizer und seinem späten Motto vom ‚Leben, das leben will, inmitten von Leben,
das leben will‘! Engagiert sich gegen Atomtests, Krieg in Vietnam. Geht nach Indien, lernt
Buddhismus von tibetischen Flüchtlingen, nach Sri Lanka, lernt Mut von lokalen Aktivisten.
Lebt in Deutschland, Frankreich, sonstwo in der Welt. Studiert spät Systemtheorie,
promoviert, lehrt an Universitäten. Entwickelt mit anderen den Ansatz der ‚Deep Ecology‘
und tourt als Mutmacherin fast um die ganze Welt, selbst nach Tschernobyl in verstrahlte
Gebiete der Sowjetunion. Weint mit den Menschen, tanzt mit ihnen, erklärt die Welt neu
und schickt sie los, „weil Hoffnung im Handeln entsteht“.
Und ganz am Ende liegt sie lächelnd im heimischen Bett in Berkeley, Kalifornien – fast Hundertjährig, mit dem faltigen Gesicht
einer alten Schildkröte, die das Leben kennt und den Tod annimmt. Und friedlich geht …
Eine große Seele, ein Bodhisattva der Erde, eine Liebhaberin des lebenden Planeten – ‚Word
as Lover, World as Self‘ heißt eins ihrer siebzehn Bücher. Die Welt ist ein Stück leerer nach
ihrem Abschied. Die Herzen voller. Und man wird sie erinnern. Vielleicht noch Jahrhunderte,
nachdem der ‚Große Wandel‘ gelungen ist. Dort, wo sie jetzt vielleicht ist, werden die Wesen
der Zukunft – so denke ich in Dankbarkeit – sie applaudierend willkommen geheißen haben.
Geseko von Lüpke







